13.5.2005
Vergesst den freien Willen
Über den eigentümlichen Reiz deterministischer Thesen
von Petra Gehring
Wir sind genetisch bestimmt - diese Befürchtung prägt die Diskussion
um Genforschung, Gentechnik und Gentests seit Jahren. Die zum Menschheitsdatum
erklärte so genannte Entzifferung des menschlichen Genoms hat die Debatte
im Jahre 2001 noch einmal auflodern lassen. Heute wird nicht über Genomforschung
geredet, sondern über Neuroforschung. Wir sind nicht genetisch, sondern
neuronal bestimmt: Der freie Wille ist eine Illusion. Das Gehirn setzt unsere
Entschlüsse in Gang, bevor wir vermeintlich selbst getroffene Entscheidungen
überhaupt bewusst denken können.
Die Liste der Meldungen ließe sich verlängern. "Biochemie der
Emotionen": Duftstoffe und Hormone entscheiden, wen wir lieben und wen
nicht! "Künstliche Intelligenz": Computerprogramme übertreffen
und lenken letztlich, was das Menschengehirn zu leisten vermag! "Nanoforschung":
Mikroskopische Maschinen wandern in unseren Körper ein und steuern uns
unbemerkt!
Deterministische Thesen verdrängen einander förmlich aus dem Rampenlicht
- wobei, wenn ein neuer Determinismus auftaucht, bemerkenswert wenig über
sein Verhältnis zu den vorherigen, ganz anders gelagerten Determinationsthesen
zu hören ist. Auch werden gerade die spektakulären Szenarien selten
zurückgenommen oder "widerlegt" - sehr ernst scheint die Wissenschaft
selbst sie nicht zu nehmen. Die Behauptungen altern eher und verblassen. Irgendwann
werden sie belächelt. Ein altes Prinzip, denn die Galerie außer Kurs
gekommener Determinationsthesen ist lang. Für Unabänderlichkeit sorgte
früher das Schicksal, dann die göttliche Prädestination. Seit
dem 18. Jahrhundert sind es dann vor allem Formen von "Natur", aber
auch der Lauf der Geschichte, das "Leben", das Unbewusste, das soziale
Milieu.
Im Wissenschaftssystem von heute gibt es durchschaubare Gründe für
das laute Geklapper. Wer einen Determinismus glaubhaft machen kann, hat eine
Mediensensation in der Tasche und kann mit zusätzlichen Forschungsgeldern
rechnen. Auch öffentliche Mittel fließen. Nicht zuletzt steckt ja
in jedem Determinismus ein politische Gleichung: Was am Menschen sich in der
Experimentalforschung als "determiniert" herausstellt, das könnte
auf lange Sicht auch außerhalb des Labors mit technischen Mitteln kontrollierbar
sein. Erbkrankheiten eliminieren, Erbgut verbessern, Verbrechen beseitigen:
Determinismusthesen bergen stets sozialtechnologische Verlockungen.
In der Theorie wurden deterministische Naturwissenschaftlerphilosophien noch
jedes Mal widerlegt. Im Kern beruhen sie auf einem einfachen logischen Kurzschluss.
Sie universalisieren blind; sie verfügen über keine Wissenschaftstheorie
ihrer selbst und stützen sich pauschal auf die "Wissenschaftlichkeit"
überspezialisierter Aussagen. Für die Hirnforschung gilt das in besonderem
Maße: Sie besitzt keine Theorie darüber, was ihre eigenen Geräte
messen; sie hat wenig positives Wissen über ihren beeindruckend komplexen
Gegenstand, und sie verfügt über keinerlei Erkenntnistheorie, die
darlegt, woher der plötzliche Wissensvorsprung ihrer eigenen Disziplin
- die gleichsam der Natur selbst über die Schulter schaut - wohl kommt.
In der Praxis, wie gesagt, widerlegen sich Determinismen nicht, sie erledigen
sich eher - zumeist durch allmähliche Modifizierung. So relativierte die
Arbeit am "entschlüsselten" Genom bislang alle mitgebrachten
Modelle und hat im Grunde ständig neue Unbestimmtheiten erbracht.
Trotz ihrer fachlichen Schwäche haben deterministische Thesen unter Umständen
jedoch erhebliche Wirklichkeitsmacht. Wissenschaftler können auf "das
bürgerliche Reich wissenschaftlicher Konsistenzvorstellungen"(1) schlicht
pfeifen und bewusst auf Gesellschaftsveränderung setzen: auf eine Anpassung
der Welt an ihre Theorien. Wollen Deterministen eine sozialpolitische Zukunftsvision
realisieren und lösen sich - von der Öffentlichkeit beflügelt
- von den methodischen Standards ihres Fachs, so sind nahezu beliebige Selffulfilling-Prophecy-Effekte
denkbar. Die Reihe der falschen, experimentell aber "beweisbaren"
Determinationsthesen ist lang: Unter den Prozeduren der Teufelsaustreibung erweist
sich der Besessene als vom Teufel determiniert; der der sozialen Anerkennung
für immer beraubte Straftäter zeigt sich als "von Natur aus"
gefährlich; ohne Zugang zu Bildung sind Frauen und Neger "objektiv
messbar" dumm.
Ist der Mensch nun determiniert? Ich schlage vor, die Fragestellung zu verändern.
Fassen wir nicht die Thesen selbst, sondern ihren Resonanzboden ins Auge: Was
eigentlich fasziniert am Determinismus so sehr? Derzeit könne man unbesorgt
Bücher in Höchstauflagen drucken, sobald nur im Titel das Wort "Gehirn"
fällt, das hörte ich aus Verlagskreisen. Warum? Worin liegt das Magnetische
der Feuilletonthesen der Neuroforscher Gerhard Roth und Wolf Singer, die behaupten,
Willensfreiheit sei nur eine "Illusion" und das Soziale erkläre
sich als "Wechselwirkung zwischen Gehirnen"(2)? Was fesselt die Leser
der vor einigen Jahren neu auf dem Markt aufgetauchten populärwissenschaftlichen
Illustrierten Geist und Gehirn? Blicken wir zurück in die Zeit der Gen-Debatten,
so gibt es Parallelfragen: Was war der Charme eines evolutionistischen Reißers
wie "Das egoistische Gen" von Richard Dawkins, der 1976 mit der These
aufwartete, wir seien "als Genmaschinen gebaut worden, dazu geschaffen,
unsere Gene zu vererben"(3)? Oder, um noch ältere Beispiele zu nennen:
Wodurch faszinierten seinerzeit die (heute nicht nur überholten, sondern
durch Fälschungsvorwürfe diskreditierten) Instinktbindungs- und Prägungstheoreme
von Konrad Lorenz? Was genau reizte an Ernst Haeckels "Monismus"?
Et cetera.
Erste Vermutung: Man erschrickt ganz einfach, wenn man mit einer im vollen Ornat
der naturwissenschaftlichen Wahrheit daherkommenden Entzauberungsformel konfrontiert
wird. Die Idee eines alles regierenden inneren Prinzips des eigenen Seins hat
etwas Bedrohliches. Unsere säkulare Normalsicht der Welt ist zwar an die
Relativitäten des Alltags gewöhnt, man lebt gut mit dem Zusammenspiel
aus Freiheit und Unübersichtlichkeit, das zum modernen Selbst- und Handlungsverständnis
gehört. Gleichwohl weiß man nicht recht, ob man Schlagzeilen wie
"Wir sind determiniert"(4) oder "Ich bin mein Gehirn"(5)
oder die an Eltern ausgegebene Forderung nach einer "Neuropädagogik"
einfach ignorieren darf. Unangenehme Vorstellung, aber ob nicht vielleicht doch
etwas dran ist? Habe ich tatsächlich in einer "Illusion" gelebt?
Pflichtschuldig verunsichert, bangen wir um unser freiheitliches Selbstverständnis,
und dieser Sorge verdankt sich das Aufmerken in Sachen Gene oder Gehirn.
Gerade wer sich Sorgen macht, könnte freilich mit wenig Mühe erkennen,
wie fragwürdig der Charakter dieser schockierenden Thesen ist. Wer zweifelt,
ist nicht allein. Stets klärten in den "Debatten" seriöse
Stimmen, wo die Spekulation beginnt und was vorläufig als heiße Luft
betrachten werden kann. Im Falle der Genetik überwog die öffentliche
Skepsis über Jahre. Im Falle der Hirnforschung ist es geradezu frappant:
Die deutsche Neurodebatte betreiben ganz wenige Protagonisten, die sich überdies
auf anderswo längst ausdiskutierte Forschungsergebnisse aus den 1980er-Jahren
stützen. Die große Mehrzahl der Teilnehmer an der Neurodebatte schüttelt
über die schlichten Thesen der Hirnforscher den Kopf. Gleichwohl hält
das Thema die Republik in Atem.
Für die Debatte um die Nanotechnologie gilt Ähnliches. Angefeuert
von den transhumanistischen Zukunftsprognosen des US-amerikanischen Ingenieurs
Eric Drexler, will das Gedankenspiel um staubkleine Roboter, die am Ende sich
und uns umbauen werden, einfach nicht enden. Ist es wirklich nur die Sorge,
die die Debatten trägt?
Zweite Vermutung: Die Sache macht dem Publikum Freude. Es muss da eine gewisse
Lust mit im Spiel sein, ein spezieller Reiz, der gerade von Determinismusthesen
ausgeht. Bietet die Vorstellung eines durch naturwissenschaftlich erschlossene
Kausalgesetze regierten Universums vielleicht Trost? Entlastet sie von Verantwortung?
Vermittelt die Vision eines die Menschheit programmierenden Genstroms oder des
uns alle regierenden Gehirns ein Gefühl des Erhabenen? Verhielte es sich
so, dann wäre es wohl eine religiöse Regung, die sich im Interesse
am übermächtigen Naturgesetz manifestiert. In diese Richtung weist
die zentrale Rolle der Bilder dessen, was da fasziniert: Farbige Darstellungen
haben in den 1960er-Jahren das Weltall und das Satellitenbild der Erde, später
die DNA-Spirale und heute die bunten Rasteraufnahmen des Gehirns zur Ikone gemacht.
Das determinierende Naturobjekt erstrahlt in sakralem Glanz: unnahbar, gebieterisch,
schön. "Fürchte dich nicht", lautet die Botschaft des Hochglanzbildes:
Fürchte dich nicht, die Natur ist groß, doch das Wunder Wissenschaft
macht sie dem Fortschritt der Menschheit dienstbar. So überwiegt die Lust
im heiligen Schauder angesichts verborgener Übermacht.
Dritte Vermutung: Religiöse Anmutungen mögen im Spiel sein, aber sie
erklären nicht den hohen Streitwert deterministischer Thesen. Bleibt ein
weiterer, der quasiaufklärerische Zug, der die deterministische Geste prägt:
Vergesst das bisher Dagewesene! Entlarvt mit uns die alltägliche Sicht
der schlecht Informierten als "Illusion"! Die nüchterne Wahrheit
ist hart, so lautet die Botschaft, aber wer es wagt, ihr mannhaft ins Auge zu
blicken, dem enträtselt sich eine nur für die Dummen und Ängstlichen
unerklärbare Welt - zumal die Erklärung ja viel einfacher ist als
die komplizierte Weltsicht der Ewiggestrigen. Weg mit langatmigen Einwänden:
Alles nur "Gefühl". Populäre Determinismen locken mit einem
Wissensvorsprung, den der naturwissenschaftlich interessierte Laie mit der vermeintlichen
Avantgarde der Forschung teilen kann. Aus dieser Sicht läge der Reiz der
Frage, ob "wir alle" programmiert sind oder ob das Gehirn "uns"
denkt, im Grunde darin, dass ich als Leser mich wahlweise als Opfer oder als
kleiner Experte fühlen kann. Unter den als unfrei Entlarvten kann man sich
selbst immerhin zu denen mit Durchblick, zu den Entdeckern und Verkündern
einer These zählen.
Mein persönlicher Eindruck - gewonnen im Dunstkreis öffentlicher Bildungseinrichtungen
- ist der, dass gar nicht einmal Techniker und Ingenieure, sondern besonders
gern Lehrer, auch gern ältere Lehrer (und auf jeden Fall Männer) die
umstürzende Bedeutung der Neuroforschung im Munde führen. Sie sind
nicht besorgt, sie bestaunen nichts Erhabenes, vielmehr lieben sie es, sich
auf den Einblick in die Wissenschaft zu berufen, und haben gern das letzte Wort.
Unter den Unfreien trumpft der Anwalt des Naturgesetzes auf. Es ist, als wachse
ihm eine Freiheit zweiter Stufe zu. Hier zeigt der Determinismus sein vielleicht
unschönstes Gesicht: Er liefert Totschlagargumente. Er hat eine strukturelle
Affinität nicht nur zum Vorgriff auf die Zukunft, sondern auch - sehr gegenwärtig
- zur autoritären Rechthaberei.
Bedienen deterministische Thesen männliche Allmachtsfantasien? Zu gern
wüsste ich mehr über - sagen wir: über Geschlecht, Ausbildung,
Position und Sozialprofil der typischen Leser der Zeitschrift Geist und Gehirn.
Auch über die Aura, die Männer wie James Watson, Marvin Minsky, Craig
Venter oder Eric Drexler umgibt. Faustische Figuren? Helden, in deren Fußstapfen
man treten möchte? Überväter, denen man sich unterwirft?
So oder so entwickeln Determinismusdebatten einen Sog, der auch kluge Köpfe
- und manche sicher widerwillig - zum Mitreden zwingt. Dieser Punkt ist besorgniserregender,
als er scheint, denn im Dialog mit einer allzu simplen Position nehmen leicht
die eigenen Argumente Schaden. Die differenziertere Position braucht Platz.
Schon deshalb sieht sie schlecht aus. Wie beweise ich eben schnell, dass eins
und eins nicht drei ist? Man lese nach, mit wie viel Hilflosigkeit auf die zwar
hummeldumme, von der Neuroforschung jedoch hartnäckig wiederholte Annahme
reagiert wurde, aus dem zeitlichen Nacheinander zweier Ereignisse in einem bestimmten
Versuchsaufbau(6) sei zu folgern, das frühere Ereignis sei für das
spätere kausal! Ein naturalistischer Zirkelschluss lässt sich ähnlich
schwer widerlegen wie die Behauptung, hinter unserem Rücken würden
uns regelmäßig Außerirdische besuchen. Wer sich mit Deterministen
anlegt, muss daher Acht geben: Ihr Denkstil färbt ab. Nicht selten verfangen
sich Kritiker des Determinismus in einem apokalyptischen Determinismus umgekehrter
Art. So geschehen bei Jürgen Habermas. Er tritt der Klonierung (also der
gentechnischen Zwillingsherstellung) mit dem Argument entgegen, der Klon werde
als Sklave geboren, denn durch den Einsatz der Technik erscheine ein Fremder
als der "Autor" von dessen Biografie.(7)
An den Genen entschiede sich demnach die Frage von Freiheit oder Sklaverei,
die Frage der "Autorschaft" für ein ganzes Leben? In der Absicht,
drastisch vor den Folgen der Klonierung zu warnen, übernimmt hier ein Kritiker
selbst das Denkmodell der genetischen Determination. Ein großer Denker
scheint in die Falle getappt zu sein. Dergleichen passiert.
Aber noch einmal die Frage: Warum war das fatale Denkmuster so attraktiv? Und
warum wird der Standpunkt der Freiheit so überaus rasch und bereitwillig
einer - auch als Gefahrenszenario - viel zu einfachen Sichtweise preisgegeben:
Aus Sorge? Aus Angstlust? Als Totschlagargument?
Fußnoten:
(1) Christian Geyer, "Kunstgriff Hirnforschung. Große Schuhe",
in: "FAZ" vom 13. April 2005.
(2) Wolf Singer, "Ein neues Menschenbild?", Frankfurt am Main
2003, S. 12.
(3) Richard Dawkins, "Das egoistische Gen" (1967), Berlin, Heidelberg,
New York 1978, S. 235.
(4) Gerhard Roth, "Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit
von Illusionen", in: "FAZ" vom 1. 12. 2003.
(5) Holk Cruse, "Ich bin mein Gehirn. Die neuronale Konstruktion der
Freiheit", in: "FAZ" vom 5. 4. 2004.
(6) Es geht um die so genannten Libet-Experimente.
(7) Jürgen Habermas, "Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf
dem Weg zu einer liberalen Eugenik?", Frankfurt am Main 2001, bes. S. 49 ff.,
77, 110 f., dazu S. 107: "Eine genetische Intervention eröffnet
nicht den kommunikativen Spielraum, das geplante Kind als eine zweite Person
anzusprechen und in einen Verständigungsprozess einzubeziehen."
© "Le Monde diplomatique", Berlin
Petra Gehring ist Professorin für theoretische Philosophie an der Technischen
Universität Darmstadt. Zuletzt erschienen: "Foucault - Die Philosophie
im Archiv", Frankfurt am Main (Campus) 2004.
Le Monde diplomatique Nr. 7663 vom 13.5.2005, 399 Zeilen, Petra Gehring