Wie lernt das Gehirn? Wie geschieht Erinnerung und Prägung? Wie kommt die Welt in den Kopf?
Prof.
Gerhard Roth, Philosoph, Neurobiologe, Verhaltensphysiologe,
leitet das Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen und
baut dort zur Zeit ein Zentrum für Neuro- und Kognitionswissenschaften
auf.
Bewußtseinszustände treten in den Bereichen
unserer Wahrnehmung auf, wo die Gestaltungs- und Lernfähigkeit besonders
gefordert wird. Man kann heute mit verschiedenen Methoden messen, was im Gehirn
geschieht, wenn Menschen bewußte Wahrnehmungen haben. Dabei sieht man,
daß ganz eng umschriebene Areale im Kortex stark stoffwechselaktiv sind.
Dies führt dazu, daß bestimmte synaptische Prozesse dort sehr plastisch
sind, also die Nervenzellen dort leicht neu zu verknüpfen sind. Das heißt,
unsere bewußte Wahrnehmung steht immer im Dienst einer besonders aktiven
Analyse, die eben ein Maß an synaptischer Plastizität und ein hohes
Maß an Neuverknüpfung, also an Lernen erfordert. Das ist der funktionale
Sinn von Aufmerksamkeit und Bewußtheit.
Gerhard Roth rechnet sich zu den Konstruktivisten.
Er sagt, das Gehirn kennt nur seine eigene Wirklichkeit, und über die Wirklichkeit
außerhalb des Gehirns wissen wir nichts. Der Konstruktivismus hat weitreichende
Konsequenzen auch für die Wissenschaftstheorie. Auch die Wissenschaft ist
demnach ein Konstrukt - besitzt keine eigene Wahrheit, sondern ist nur ein Erklärungsmodell
über die Welt und deren Wirkungszusammenhang. Roth: Wissenschaft
kann niemals die objektive Welt widerspiegeln - das gilt auch für die Naturwissenschaften.
Dies ist für viele Wissenschaftler schwer zu akzeptieren, allerdings interessanterweise
nicht so sehr für die Vertreter der Wissenschaft, die allgemein als fundamental
angesehen wird, nämlich die Physik. Die Physiker, mit denen ich zusammenarbeite,
haben durchweg einen konstruktivistischen Standpunkt. Wenn man nämlich
erst einmal fragt: Was ist Materie, was ist Energie, was ist Masse, dann sieht
man: Das ist nicht objektiv gegeben, sondern das ist Konvention, wenn auch sozial
vereinbarte Konvention. Es ist interessant zu erfahren, daß häufig
ausgerechnet die Philosophen an die Objektivität der Naturwissenschaft
glauben.
Früher nahm man an, die Welt im Außen würde
über die Sinnesorgane objektiv im Gehirn abgebildet und dort gespeichert.
Die Innenwelt sei wie ein Spiegel, und dort befände sich eine Art Miniatur-Umwelt
und würde vom Homunkulus - einem kleinen Mann im Kopf, dem eigentlichen
Ich - ständig irgendwie interpretiert und kontrolliert, wie
in einem Schaltzentrum. Den Sitz vermutete Descartes in der Zirbeldrüse.
So hat jedes Zeitalter seine Sichtweise, und dies verrät mehr über
das Zeitalter, als über die objektive Wirklichkeit. 1981 bekamen der Amerikaner
David H. Hubel und der Schwede Torsten N. Wiesel den Nobelpreis für ihre
Arbeiten über die Gestaltserkennungsarbeit im Gehirn. Beide bewiesen damit,
daß das Gehirn die Umwelt nicht punktweise abbildet, sondern schon sehr
früh die interessanten Stellen hervorhebt, zum Beispiel die Konturen von
Gegenständen, und diese dann speichert. Doch auch ihre Nobelpreistheorie
ist im weiteren Verlauf der Gehirnforschung schon wieder überholt. Selbst
die Milliarden von Neuronen des menschlichen Gehirns würden nicht ausreichen,
alle möglichen Wahrnehmungsobjekte zu speichern, meinten die
Bochumer Neurobiologen Simone Cardoso de Oliveira und Axel Zienke. Die Suche
nach einem obersten Wahrnehmungszentrum, einem höchsten Integrationszentrum
verlief ebenfalls erfolglos. Beide Nobelpreisträger sind auch wieder von
ihrer Theorie abgerückt. Die momentan aktuelle Sichtweise der Hirnforscher
wird mit dem Begriff Konnektionismus bezeichnet. Danach wird das
Wahrgenommene nicht in einer abgegrenzten Kommandozentrale des Gehirns zu einem
sinnvollen Ganzen zusammengesetzt. Die Konnektionisten stellen sich vielmehr
unterschiedliche Hirn-Module vor, die weitgehend unabhängig voneinander
arbeiten, und zwar gleichzeitig. Jedes dieser Module oder neuronalen Netze
ordnet die Welt nach seiner Fasson. In der Computersprache heißt das:
Das Gehirn arbeitet massiv parallel.
Gestaltspsychologen wie Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka
hatten schon Kriterien dieser Sichtweise in ihren Wahrnehmungsexperimenten in
der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entdeckt. Man nimmt heute drei weitgehend
getrennt arbeitende Systeme für Form, Farbe und Bewegung an und kann dies
auch aufgrund von klinischen Befunden belegen. So kann infolge von Hirnschädigungen
durch Schlaganfall das Farbensehen unabhängig vom Formensehen fehlen. Ebenso
kann das Bewegungssehen spezifisch ausfallen, das heißt Patienten sind
unfähig, Objekte zu erkennen, wenn diese sich bewegen, haben aber keine
sonstigen kognitiven Ausfälle. Die einzelnen Module arbeiten in gemeinsamen
Schwingungsfrequenzen miteinander. Die Nervenzellen, die solche Ensembles bilden,
sind nicht fest miteinander verdrahtet und somit nicht nur auf ein
ganz spezielles Objekt spezialisiert. Vielmehr können sich die Neuronen
- je nach Bedarf - unterschiedlichen Ensembles anschließen. Es ist sehr
wahrscheinlich, daß sich bestimmte Ensembles häufig zusammenschließen,
weil sie Umwelt-Konfigurationen repräsentieren, die sehr häufig vorkommen.
Es wäre denkbar, daß sich das Gehirn diese Konfigurationen einprägt,
indem es die entsprechenden Zell-Ensembles über deren Synapsen fester zusammenschweißt.
Schnitt durch die Sehrinde eines Affen: Die Nervenzellen sind durch ein Netz von Fasern miteinander verbunden. Nur die dicksten Fasern wurden hier eingefärbt - in Wirklichkeit ist das Nerven-Netz noch viel dichter verwebt. |
Einen solchen Mechanismus hatte der kanadische Psychologe Donald
O. Hebb schon 1949 im Zusammenhang mit assoziativem Lernen vorgeschlagen. Je
häufiger zwei Nervenzellen gleichzeitig aktiv sind, so die Hebb-Regel,
desto stärker wird ihre synaptische Kopplung: ein einfacher Lernmechanismus.
Aus Erfahrung könnte das Gehirn demnach wissen,
welche Merkmalskombinationen zum Beispiel einen Gegenstand (z.B. ein Stuhl)
ausmacht. Das entsprechende Zell-Ensemble würde vielleicht auch dann zünden,
wenn nicht alle Merkmale des Stuhls zu sehen sind, etwa wenn ein Teil des Stuhls
von einem Tisch verdeckt ist. Zu solch einer komplexen und intelligenten
Wahrnehmungsleistung bedarf es jedoch umfassender Gedächnisinformationen
aus anderen Hirnregionen. Da alles miteinander vernetzt ist, sind auch andere
Sinneseindrücke wie Riechen, Töne, Körpergefühle usw. mit
jedem Bild assoziativ verknüpft, sowie übergeordnete Erfahrungsmuster,
die sich alle zu einem sinnvollen subjektiven Ganzen zusammenfügen müssen.
H. Haken kann mit seinen Forschungen zur Mustererkennung auf der Basis seines synergetischen Computermodells klar aufzeigen, daß immer eine Symmetriebrechung vorkommt und Informationen im Kontekt zu schon vorhandenen Informationen interpretiert werden. Auch Gerhard Roth sieht dies so: Wir nehmen stets durch die Brille des Gedächnisses wahr, denn das, was wir wahrnehmen, ist durch frühere Wahrnehmungen entscheidend mitbestimmt. Was wir in unserem Bewußtsein vorfinden, diese einheitliche und wohlgeordnete Welt, ist das Ergebnis einer langen Wahrnehmungs- und Ordnungsarbeit des Gehirns. Von dieser Arbeit selbst wird uns nichts bewußt. Was uns bewußt wird, ist eine Interpretation der Wirklichkeit durch das Gehirn. Es ist die Welt, wie sie das Gehirn für plausibel hält. Denn das Gehirn bildet die Welt eben nicht ab - es konstruiert sie. Dabei bedient es sich bestimmter Faustregeln, die sich in der Evolution als nützlich erwiesen haben: Es versucht, die Welt so einfach, eindeutig und widerspruchsfrei wie nur möglich darzustellen. Wie die Welt dort draußen wirklich aussieht, können wir unmöglich entscheiden, denn wir kennen nur die Welt, die unser Gehirn uns konstruiert. Alles, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß die Konstruktion des Gehirns dazu taugt, sich in der realen Welt zurechtzufinden - sonst wären wir längst ausgestorben. Wir finden uns ausgezeichnet in einer völlig unbekannten Welt zurecht, weil unser Gehirn intuitiv gelernt hat, mit richtigen Reaktionen zu reagieren.