Gehirn&Geist 6/2004 Ausschnitte:
Elf führende
Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung
Was wissen und können Hirnforscher heute?
Angesichts des enormen Aufschwungs der Hirnforschung in den vergangenen Jahren
entsteht manchmal der Eindruck, unsere Wissenschaft stünde kurz davor,
dem Gehirn seine letzten Geheimnisse zu entreißen. Doch hier gilt es zu
unterscheiden: Grundsätzlich setzt die neurobiologische Untersuchung des
Gehirns auf drei verschiedenen Ebenen an. Die oberste erklärt die Funktion
größerer Hirnareale, beispielsweise spezielle Aufgaben verschiedener
Gebiete der Großhirnrinde, der Amygdala oder der Basalganglien. Die mittlere
Ebene beschreibt das Geschehen innerhalb von Verbänden von hunderten oder
tausenden Zellen. Und die unterste Ebene umfasst die Vorgänge auf dem Niveau
einzelner Zellen und Moleküle. Bedeutende Fortschritte bei der Erforschung
des Gehirns haben wir bislang nur auf der obersten und der untersten Ebene erzielen
können, nicht aber auf der mittleren.
... was in einem einzelnen Neuron passiert, können wir
mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung analysieren sowie in
Computermodellen simulieren. Dies ist von großer Bedeutung für das
Grund legende Verständnis der Arbeitsweise von Sinnesorganen und Nervensystemen
sowie für die gezielte Behandlung neurologischer und psychischer Erkrankungen.
Zweifellos wissen wir also heute sehr viel mehr über das Gehirn als noch
vor zehn Jahren. Zwischen dem Wissen über die obere und untere Organisationsebene
des Gehirns klafft aber nach wie vor eine große Erkenntnislücke.
Über die mittlere Ebene - also das Geschehen innerhalb kleinerer und größerer
Zellverbände, das letztlich den Prozessen auf der obersten Ebene zu Grunde
liegt - wissen wir noch erschreckend wenig.
Auch darüber, mit welchen Codes einzelne oder wenige Nervenzellen
untereinander kommunizieren (wahrscheinlich benutzen sie gleichzeitig mehrere
solcher Codes), existieren allenfalls plausible Vermutungen. Völlig unbekannt
ist zudem, was abläuft, wenn hundert Millionen oder gar einige Milliarden
Nervenzellen miteinander "reden".
Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare
Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere
Tun als "seine" Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige
Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen.
Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln
erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen
noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.
Die Beschreibung von Aktivitätszentren mit PET oder fMRI und die Zuordnung
dieser Areale zu bestimmten Funktionen oder Tätigkeiten hilft hier kaum
weiter. Denn dass sich all das im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt,
stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar. Denn "wie"
das funktioniert, darüber sagen diese Methoden nichts, schließlich
messen sie nur sehr indirekt, wo in Haufen von hundert Tausenden von Neuronen
etwas mehr Energiebedarf besteht. Das ist in etwa so, als versuchte man die
Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch
misst, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet.
Vieles spricht dafür, dass neuronale Netzwerke als hochdynamische, nicht-lineare
Systeme betrachtet werden müssen. Das bedeutet, sie gehorchen zwar mehr
oder weniger einfachen Naturgesetzen, bringen aber aufgrund ihrer Komplexität
völlig neue Eigenschaften hervor. Repräsentationen von Inhalten -
seien es Wahrnehmungen oder motorische Programme - entsprechen hochkomplexen
raumzeitlichen Aktivitätsmustern in diesen neuronalen Netzwerken. Um diesen
Signalcode zu entschlüsseln, bedarf es wahrscheinlich paralleler Ableitetechniken,
die eine gleichzeitige Messung an vielen Stellen des Gehirns erlauben.
... Mit am eindrucksvollsten ist seine enorme Adaptions- und
Lernfähigkeit, die - und das ist wohl der überraschendste Punkt -
zwar mit dem Alter abnimmt, aber bei weitem nicht so stark wie vermutet. Lange
Zeit dachte man, die Hirnentwicklung sei irgendwann in der Jugend abgeschlossen
und die neuronalen Netzwerke seien endgültig angelegt. Mittlerweile steht
aber fest, dass sich auch im erwachsenen Gehirn zumindest im Kurzstreckenbereich
- auf der Ebene einzelner Synapsen - noch neue Verschaltungen bilden können.
Außerdem können für bestimmte Aufgaben zusätzliche Hirnregionen
rekrutiert werden - etwa beim Erlernen von Fremdsprachen in fortgeschrittenem
Alter.
Dank dieser Plastizität kann Hans also durchaus noch lernen, was Hänschen
nicht gelernt hat - auch wenn es mit den Jahren deutlich schwerer fällt.
Die molekularen und zellulären Faktoren, die der Lern-Plastizität
zu Grunde liegen, verstehen wir mittlerweile so gut, dass wir beurteilen können,
welche Lernkonzepte - etwa für die Schule - am besten an die Funktionsweise
des Gehirns angepasst sind.
Vor allem aus Tierversuchen wissen wir seit einigen Jahren außerdem, dass
sich selbst im erwachsenen Gehirn - zumindest an einigen Stellen - noch neue
Nervenzellen bilden. Zum jetzigen Zeitpunkt verstehen wir noch nicht, wie sich
bei dieser "Neurogenese" neue Nervenzellen in alte Verschaltungen
einfügen und welche Funktion sie dann übernehmen. Die Frage, ob sich
eine medikamentös induzierte Neurogenese für ursächliche Therapien
von neurodegenerativen Erkrankungen einsetzen lässt, können wir daher
im Moment noch nicht beantworten.
Wir haben herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse
und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander
zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewussten in bestimmter Weise vorausgehen.
Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf
hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgänge
in bestimmten Hirnarealen einhergehen - zum Beispiel Imagination, Empathie,
das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise
die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch wenn wir die genauen Details
noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich
durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind. Diese näher
zu erforschen, ist die Aufgabe der Hirnforschung in den kommenden Jahren und
Jahrzehnten.
Geist und Bewusstsein - wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden -
fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht.
Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich
in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht
die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften.
--- Wahrscheinlich werden wir die wichtigsten
molekularbiologischen und genetischen Grundlagen neurodegenerativer Erkrankungen
wie Alzheimer oder Parkinson verstehen und diese Leiden schneller erkennen,
vielleicht von vornherein verhindern oder zumindest wesentlich besser behandeln
können. Ähnliches gilt für einige psychische Krankheiten wie
Schizophrenie und Depression. In absehbarer Zeit wird eine neue Generation von
Psychopharmaka entwickelt werden, die selektiv und damit hocheffektiv sowie
nebenwirkungsarm in bestimmten Hirnregionen an definierten Nervenzellrezeptoren
angreift. Dies könnte die Therapie psychischer Störungen revolutionieren
- auch wenn von der Entwicklung zum anwendungsfähigen Medikament noch etliche
weitere Jahre vergehen werden.
Zudem werden Neuroprothesen wie intelligente Ersatzgliedmaßen oder das
künstliche Ohr immer weiter perfektioniert. In zehn Jahren haben wir wahrscheinlich
eine künstliche Netzhaut entwickelt, die nicht im Detail programmiert ist,
sondern sich nach den Prinzipien des Nervensystems organisiert und lernt. Das
wird unseren Blick auf das Sehen, auf die Wahrnehmung, vielleicht auf alle Organisationsprozesse
im Gehirn tief greifend verändern.
Ebenso werden uns die zu erwartenden weiteren Fortschritte in der Hirnforschung
vermehrt in die Lage versetzen, psychische Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen,
aber auch Verhaltensdispositionen zumindest in ihrer Tendenz vorauszusehen -
und "Gegenmaßnahmen" zu ergreifen. Solche Eingriffe in das Innenleben,
in die Persönlichkeit des Menschen sind allerdings mit vielen ethischen
Fragen verbunden, deren Diskussion in den kommenden Jahren intensiviert werden
muss.
Was werden Hirnforscher eines Tages wissen und können?
In absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, wird die Hirnforschung
den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits
und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits
soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge
in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind.
Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte
und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie
beruhen auf biologischen Prozessen....
...Dann werden die Ergebnisse der Hirnforschung, in dem Maße, in dem sie
einer breiteren Bevölkerung bewusst werden, auch zu einer Veränderung
unseres Menschenbildes führen. Sie werden dualistische Erklärungsmodelle
- die Trennung von Körper und Geist - zunehmend verwischen. Ein weiteres
Beispiel: das Verhältnis von angeborenem und erworbenem Wissen. In unserer
momentanen Denkweise sind dies zwei unterschiedliche Informationsquellen, die
unserem Wahrnehmen, Handeln und Denken zu Grunde liegen. Die Neurowissenschaft
der nächsten Jahrzehnte wird aber ihre innige Verflechtung aufzeigen und
herausarbeiten, dass auf der mittleren Ebene der Nervennetze eine solche Unterscheidung
gar keinen Sinn macht. Was unser Bild von uns Selbst betrifft, stehen uns also
in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus. Geisteswissenschaften
und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen,
um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.
Aller Fortschritt wird aber nicht in einem Triumph des neuronalen Reduktionismus
enden. Selbst wenn wir irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge
aufgeklärt haben sollten, die dem Mitgefühl beim Menschen, seinem
Verliebtsein oder seiner moralischen Verantwortung zugrunde liegen, so bleibt
die Eigenständigkeit dieser "Innenperspektive" dennoch erhalten.
Denn auch eine Fuge von Bach verliert nichts von ihrer Faszination, wenn man
genau verstanden hat, wie sie aufgebaut ist. Die Hirnforschung wird klar unterscheiden
müssen, was sie sagen kann und was außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs
liegt, so wie die Musikwissenschaft - um bei diesem Beispiel zu bleiben - zu
Bachs Fuge Einiges zu sagen hat, zur Erklärung ihrer einzigartigen Schönheit
aber schweigen muss.
Quelle/Copyright: Gehirn&Geist 6/2004
...na dann wird auch die innere Gehirnforschung - also die Innenweltreisen,
die "Software" immer interessanter....siehe auch www.gesundheitsforschung.info